Janosch Boerckel
Einführung: Nonplusultra
Nonplusultra
Nichts ist zu sehen. Die Box ist zu, sie bleibt geschlossen, gibt ihr Inneres nicht preis. Und doch ist sie im Gebrauch. Verwischte Fingerspuren und Abdrücke von Händen auf ihrer verstaubten Oberfläche zeugen davon, dass mit ihr hantiert worden ist. Ein wenig hat sie von den Zauberkästen der Magier mit ihren doppelten Böden und geheimen Fächern, in denen ganze oder scheinbar zerstückelte Menschen verschwinden, um dann wieder völlig unversehrt aus ihnen hervorzugehen und sich auf der Bühne dem ebenso verdutzten wie erleichterten Publikum zu zeigen; ähnlich dem Deus ex machina des antiken Theaters, einer Gottheit, die mithilfe einer ausgeklügelten Technik urplötzlich, gleichsam aus dem Nichts auf der Bühne erscheinen konnte, um schicksalhaft in das Geschehen einzugreifen. Wer hier der eigentliche Gott ist, derjenige, der erscheint, oder derjenige, der zum Erscheinen bringt, also der Techniker respektive Magier, der die Bühnenmaschinerie mit all ihren Effekten entwickelt hat, mag sich schon in der Antike gestellt haben.
Tatsächlich gleicht der Umraum dieser Black Box, die Janosch Boerckel um ihrer physischen Präsenz willen so zentral in Bild gesetzt hat, einer für den Zuschauer nicht sichtbaren Hinterbühne. Ein provisorisch verlegtes Kabel, eine achtlos auf dem Boden liegende Absperrkette, an die Wand gelehnte, in Cellophan gepackte Wände weiter Transportkisten, hier ein Tisch, dort noch eine kleine Truhe, könnten das nicht alles bis zur nächsten Aufführung abgestellte Bühnenbilder und Requisiten sein? Nichts deutet jedenfalls darauf hin, dass diese Black Box in einem der Forschungslabore steht, in denen gegenwärtige Zukunft entworfen wird. Dem Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in Bremen. Als Janosch Boerckel die Transportkiste zum Bildgegenstand machte, war sie gerade aus einer Wüste in Utah, in der Simulationen zum Leben auf dem Mars stattfinden, in das Bremer Forschungsinstitut zurückgekehrt. Ein Sandsturm in der Wüste erklärt die Patina ihrer Oberfläche. In der Kiste selbst befindet sich ein für die Simulationen eingesetzter Roboter, also doch ein Deus ex machina?
Für Janosch Boerckel gleicht die Box der Büchse der Pandora, jenem geschlossenen irdenen Gefäß aus der griechischen Mythologie, mit dessen Öffnung sich alles Übel, Mühsal, Krankheit und Tod, über die Menschen ergoss. Sie war Zeus Vergeltung für das von Prometheus den Göttern gestohlene und den Menschen gebrachte Feuer. Denn Feuer machte den Menschen zu einem zweiten Schöpfer. Es ermöglichte die Schmiedekunst und damit eine Reihe von Handwerkszeugen, später technischen Geräten, mit denen sich der Mensch die Natur unterwerfen sollte. Schon das mythische Denken verstand, dass die Zähmung der Naturmacht Feuer und die daraus hervorgehenden Artefakte ihren Tribut einfordern.
In Boerckels Bildserie zu Forschungslaboren, in denen an einer transhumanen, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine aufhebenden Zukunft gearbeitet wird übernimmt die Transportkiste für einen Roboter die Funktion einer visuellen Metapher. Sie ist nicht nur Sinnbild für die Büchse der Pandora, sondern verkörpert als Black Box den Raum des Labors selbst, in dem sich, den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entzogen, technischer Fortschritt vollzieht. Dabei ist der Raum des Labors, wie das die Wissenssoziologie um Bruno Latour erbracht hat, ein höchst kontingenter und auch improvisierter Raum. Was aus ihm an neuen theoretischen Erkenntnissen über die Natur und an praktischen Technologien ihrer Bearbeitung hervorgeht, verdankt sich weniger einer der konkreten Lebenswelten enthobenen rationalen Vernunft und objektiven Berechnungsverfahren. Vielmehr zeigt sich das Tun der Wissenschaftlicher und der Ingenieure von räumlichen Nachbarschaften, der Zuhandenheit bestimmter Laboreinrichtungen, den materiellen Objekten, mit denen sie arbeiten oder die sie als ihre Untersuchungsgegenstände traktieren, abhängig. Forschung geschieht in Akteursnetzwerken, zu denen gleichermaßen Menschen, Räume und Dinge gehören. Die von Janosch Boerckel fotografierten Laborräume geben an manchen Stellen einen Eindruck davon: temporär eingerichtete Arbeitsplätze, herumstehenden Gerät, Kabelsalat und eben verschmutzte Transportkisten: Auf der Hinterbühne von Wissenschaft und Forschung ist es unordentlicher als gedacht.
Als visuelle Metapher, als Sinnbild für den Raum des Labors geht die Black Box Transportkiste bereits über eine rein dokumentarische Fotografie hinaus, die Janosch Boerckel ohnehin mit subtilen Inszenierungsstrategien zu hintertreiben weiß. Ausrichtung, Ausleuchtung und Ausschnitt der fotografierten Objekte und Räume bringen das Dargestellte zu einer theatralen Aufführung, arbeiten an ihm abstrakte Seiten heraus oder lassen es zu einer leeren Projektionsfläche werden, in die sich die Imagination des Betrachters einschreiben kann. Damit geht einerseits eine ästhetische Autonomie der dargestellten Objekte einher. Sie beginnen auf nichts Anderes als auf sich selbst in ihrer jeweils eigenen Form, Struktur, Materialität oder Farbigkeit zu verweisen. Das Modell vom Muskelaufbau eines Unterarms tritt uns im fotografischen Bild als plastisches Objekt entgegen, dessen grelle Farbigkeit auf die postmoderne Ästhetik verweist. Die Spiegelungen und Lichtbrechung auf der glänzenden Oberfläche eines Details des Teilchenbeschleunigers gehen auf Bildebenen in gegenstandslose Malerei über.
Strategien der Bildinszenierung werden von Janosch Boerckel andererseits dazu genutzt, bildreflexive Fragen zu stellen, etwa inwiefern jedes Zeigen immer auch ein Nicht-zeigen ist. Das wird nicht nur an der Transportkiste deutlich, die sich, obwohl physisch äußerst präsent, dem Zugriff entzieht. Sie ist da, nimmt einen nicht unerheblichen Raum ein, gibt aber weder den Blick in ihr Inneres noch auf den Bildraum frei. Sie verwehrt beides: Einblick in sich selbst und Ausblick auf das, was sich hinter ihr befindet. Oder der mitten vor einen Arbeitsplatz in einem Mainzer Labor für Biomedizin gehaltene weiße Karton, der ein Bild im Bild ausspart. Auch hier übersteigt diese Bildstrategie, die eine Blickverweigerung ist, die sinnbildliche Ebene. Das Verdecken hört nicht bei der visuellen Metapher für eine Forschung auf, welche in verschlossenen Räumen stattfindet, inzwischen in für das Auge nicht sichtbare Nanobereiche vorgedrungen ist und mit automatisierten Berechnungsverfahren arbeitet. Es entfaltet ein eigenes, die Vorstellungskraft antreibendes Spiel des Bildentzugs. In diesen Zusammenhang gehört auch die Zeigegeste eines Vortragenden auf der ersten Cyborg-Messe im Düsseldorfer NRW-Forum, die ins Leere läuft: Wir sehen, dass wir nichts sehen.
Das moderne Labor als Bildgegenstand ist selbst ein Ort enormer Bildproduktion. Man könnte von ihm als einer eigenen Bildmaschine sprechen. Zahlreiche Verfahren in Wissenschaft und Forschung setzen Bildpraktiken sowohl in der Erkenntnisgewinnung als auch in der Erkenntnisvermittlung voraus. Kaum, dass die Fotografie die Bildmedien in der ersten Hälfte des. 19. Jahrhunderts um ein mechanisches bildgebendes Verfahren erweitert hatte, tauchte sie in den Laboren der Natur und Humanwissenschaftler auf und ging in ihre Experimentalanordnungen ein. Dort fand sie vor allem für die vergleichende Anatomie, die Histologie, also die Zellkunde, und die Bewegungslehre Verwendung. Als mechanisches Bild – und das hieß im 19. Jahrhundert als objektives und wahres Bild von Welt – enthüllte die Fotografie das Innere und das Äußere des Menschen, zeichnete in Bruchteilen von Sekunden seine Bewegungen, seine Gesten und seine Mimik auf.
Diese neuen Bildwelten brachten nicht nur ein neues Wissen über den Menschen hervor, sie dienten von Beginn an auch seiner Optimierung. Mikrofotografien des Knochenaufbaus oder Momentaufnahmen motorischer Abläufe fanden sowohl für den Prothesenbau als auch für die ergonomische Einrichtung von Arbeitsplätzen Verwendung. Optimierung bedeutet in industriellen Gesellschaften immer beides: die Überwindung körperlicher Einschränkungen sowie die Steigerung von Leistungs- und Arbeitskraft durch technische Mittel.
Tatsächlich lässt sich die Entwicklung von Technik mit Sigmund Freud als etwas betrachten, das aus den natürlichen Einschränkungen und Grenzen des Menschen seinen Antrieb findet und sich zugleich einer Glücksökonomie unterordnet. Schmerz, Tod, all das, was der Mensch unweigerlich in seiner körperlichen und endlichen Existenz erfährt, gilt es wenn nicht aufzuheben, so doch auf eine Weise abzumildern, dass der Lustgewinn das Leben bestimmt.
Genau das lässt den Menschen, in den Worten Freuds, zu einem „Prothesengott“ werden. Die zahlreichen technischen Errungenschaften, die großen und kleinen Erweiterungen der Sinnesorgane, die künstlichen Körperteile, die Eingriffe in das Leben selbst, wären dann gerade nicht das Übel, das der Büchse der Pandora entwichen ist, sondern die Hoffnung, die das irdene Gefäß als eine Art Vademekum gegen alles Leid ebenfalls beinhaltete. Die eigentlichen Ziele von Technik sind aus dieser Perspektive die Verbesserung und die Verlängerung des Lebens. Liest man die aktuelle Literatur aus dem Bereichen des Post- und Transhumanismus, dann steht das quasi religiöse Heilsversprechen einer Überwindung des endlichen, das maladen, des defizitären Körpers kurz bevor. Von den Verbindungen, die Nanotechnologie, Biotechnologie, Kognitionswissenschaft und Informatik seit den 1950er Jahren eingegangen sind, wird entweder ein Sieg über zahlreiche Krankheiten und eine deutliche Ausdehnung der Lebenszeit erwartet, oder aber es wird gleich von einem Hybrid von Mensch und Maschine ausgegangen, so genannten Cyborgs, sämtlicher Bewusstseinsleistungen in einen Sensoren ausgestatteten, weltweit vernetzten Superrechner.
Die Phantasien und Wünsche gehören zum Technoimaginären, das noch jede technische Entwicklung von gesellschaftlicher Bedeutung begleitet hat. Die Forschungslabore, die Janosch Boerckel aufgesucht hat, sind die Orte ihrer Realisierung: Prothesen, die Glieder ersetzen, Roboter, die in lebensfeindlichen Umgebungen für den Menschen sehen, hören und arbeiten können oder einfach mit ihm Tischtennisspielen, Algorithmen in der Künstlichen Intelligenz, die eine Denkleistung übernehmen, ihn dabei schon lange an Geschwindigkeit und Komplexitätsbewältigung überbieten. Jede Körpererweiterung und --verstärkung hat dabei eine Vermessung und Nachbildung anatomischer und physiologischer Köperfunktionen zur Voraussetzung. Nicht zuletzt dafür werden fotobasierte bildgebende Verfahren eingesetzt, beispielsweise beim dreidimensionalen Motion-Capturing, wie es für die Orientierungsforschung in virtuellen Räumen am Berliner Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft eingesetzt wird. Janosch Boerckel zeigt uns einen durch Datenhelm und Datenanzug gleichzeitig im Berliner Body Imaging Lab und anderswo, in einem virtuellen Bildraum seienden Körper in theatralischer Pose. Es schreibt sich hier eine direkte Geschichte von den ersten Chronofotografien eines Eadweard Muybridge und E´tiennes-Jules Marey bis zur heutigen Aufzeichnung von Bewegung in den Forschungslaboren fort; nur das heute die visuell von den Körpern abgetragenen Raumkoordinaten unmittelbar in Computersysteme eingespeist, in Echtzeit berechnet und in den virtuellen Bildraum rückgekoppelt werden.
Je naturalistischer die Nachbildung des Körpers ausfällt, desto unheimlicher erscheint uns übrigens das künstliche Gegenüber. Empirische Studien zur Akzeptanz von Robotern, die dem Menschen von ihrer Physiognomie her ähneln, haben bestätigt, was bereits Ernst Knapp in den ersten technikphilosophischen Schrift aus dem Jahr 1877 thematisiert hat: sobald nicht mehr zwischen lebendem Organismus und totem Mechanismus unterschieden werden kann, haftet den Prothesen, Automaten und Robotern etwas Dämonisches an. Die Ingenieure sind deshalb auf manga-artige Kindchenschemata oder gleich Tiergestalten als soziale Interfaces ihrer Roboter ausgewichen. Auch Freud erkannte in den lebensechten Automaten, Puppen und Doppelgängern, die mit Entdeckung der Elektrizität in die Literatur des 19. Jahrhunderts Einzug erhielten, etwas Unheimliches, das jederzeit Einbruch in das Heimelige halten kann. Wie wenig heute bei plastischen Nachbildungen von Körperteilen noch zwischen natürlichen oder künstlichen, lebendig oder tot unterschieden werden kann, eröffnet Janosch Boerckel mit Fotografien einzelner Körperglieder. Was uns da begegnet, ist nicht mehr ohne weiteres zu entscheiden: echter Unterarm oder Prothese, Mensch oder Maschine.
Als andere gehen wir aus der Betrachtung Deiner fotografischen Arbeit zu Forschungslaboren und ihren Zukunftsentwürfen hervor, Janosch. Wir verstehen, dass sich der Mensch in einer technologischen Entwicklung befindet, die weder sein körperliches Erscheinungsbild noch seine kognitiven Fähigkeiten, noch überhaupt den Begriff des Menschen unberührt lassen wird.
Prof. Dr. Kirsten Wagner, 2018
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